Universal-Bibliothek von Reclam:Das Reclam-Heft war eine Jahrhundertidee

Johann Wolfgang Goethe im Reclam Bücherregal auf der Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main

Am 9. November 1867 wurden Werke von 30 Jahre und länger zuvor verstorbenen Autoren rechtefrei. Pünktlich am 10. November kam Reclams neue "Universal-Bibliothek" auf den Markt, Goethes "Faust. Erster Theil" war die Nummer 1.

(Foto: imago/Hoffmann)

Die "Universal-Bibliothek" wird 150 Jahre alt. Zum Geburtstag zeigt eine Ausstellung, wie die gelben Heftchen die Klassikerlektüre verändert haben.

Von Lothar Müller

Ein Hauch von Ewigkeit umgibt die Klassiker. Denn als klassisch gilt, was über lange Zeiten hinweg seinen Wert behält. Der Dichter Johann Wolfgang Goethe war darauf bedacht, ein Klassiker zu werden, als er in seinen letzten Jahren viel Zeit für die Fertigstellung der "Ausgabe letzter Hand" aufwandte. Seine Figuren Faust und Mephisto aber konnten der Zeit als Dauer wenig abgewinnen, sie schlossen ihre Wette über die Lust am Augenblick. Sie mochten aus der Vergangenheit stammen, aber in ihnen steckte neben Alchemie und alten Teufeleien die Unruhe der modernen Zeiten. Sie heckten das Papiergeld aus, und zu den Rollen, durch die Faust glitt, gehörte die des skrupellos agierenden Entrepreneurs.

Etwa fünfeinhalb Jahre nach Goethes Tod, am 9. November 1837, endete auf der prosaischen, merkantilen Ebene das "ewige Verlagsrecht". An diesem Tag beschloss die deutsche Bundesversammlung, der preußischen Gesetzgebung folgend, es solle künftig für die Werke von Autoren nur noch eine Schutzfrist von dreißig Jahren, gerechnet ab ihrem Tod, gelten. Es gab noch eine Galgenfrist von ebenfalls dreißig Jahren, bis diese Neuregelung des Urheberrechts in Kraft trat. Danach aber wurden die Werke aller vor dem 9. November 1837 verstorbenen Autoren rechtefrei, und weil das vorhersehbar war, kam pünktlich am 10. November 1867 Reclams neue "Universal-Bibliothek" auf den Markt, Goethes "Faust. Erster Theil" und "Faust. Zweiter Theil" waren die Nummern 1 und 2.

Anton Philipp Reclam war nicht der einzige Verleger, der in diesem "Klassikerjahr" die Idee hatte, Werke von Goethe, Lessing, Schiller oder Kleist in preiswerten Ausgaben und hoher Auflage auf den Markt zu bringen, aber seine Universal-Bibliothek setzte sich rasch durch. Noch zu Goethes Lebzeiten, 1828, hatte er, zuvor schon Betreiber einer Leihbibliothek und eines Lesekabinetts, in Leipzig seinen Verlag gegründet, 1839 eine Druckerei hinzugekauft, und wenn man die Gründe für seinen Erfolg mit der Universalbibliothek in einem Satz zusammenfassen sollte, so müsste er lauten: Anton Philipp Reclam war eine treibende Kraft der Industrialisierung der Literatur.

Neue Drucktechnologien machten den geringen Preis möglich

Goethe hatte seine Verträge mit Johann Friedrich Cotta geschlossen, der bis heute zu Recht als "Verleger der deutschen Klassik" berühmt ist. Auch Cotta war ein Mann mit großem Gespür für technische Neuerungen, zu seinen weitgespannten Unternehmungen gehörte zeitweilig ein Dampfschiffprojekt, auch er brachte kleinformatige Taschenausgaben der Werke von Goethe, Schiller oder Lessing heraus, in Auflagenhöhen zwischen 10 000 und 20 000 Exemplaren. Im Reclam Verlag aber, der nun die bisher ausschließlich an Cotta gebundenen Klassiker drucken durfte, herrschte der Geist des "Pfennig-Magazins", das in Deutschland nach englischem Vorbild 1838 auf den Markt kam. Es widmete sich der "Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse"; zu den technischen Neuerungen, die es einem Publikum in Text und Holzstichillustrationen vorstellte, gehörten die neuen Schnellpressen der Druckereien und die Papiermaschinen.

Erst das Bündnis mit den neuen Technologien machte die schnell umgeschlagenen Massenauflagen der Universalbibliothek und ihren geringen Preis von 20 Pfennig möglich. Von Goethes "Faust I", Erstauflage 5000, wurden schon im Dezember 1867 weitere 5000 Exemplare nachgedruckt, schon im Frühjahr 1868 waren 20000 Exemplare verkauft. Die Kabinettausstellung "Universal. Reclams Jahrhundertidee 1867-1990" des Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig zeigt, wie durch die Universalbibliothek Reclam zum Klassikerverlag neuen Typs wurde, zu einer "Marke" im modernen Sinn, mit Methoden, die modernes Marketing betrieben, ehe es den Begriff hierfür gab.

Man werfe zunächst einen Blick auf das Jugendbildnis von Anton Philipp Reclam. Er sieht, mit seinem herausfordernden Blick, so aus wie mancher junge Mann seiner Zeit. Ein bequemer Untertan war er nicht. Als er in den 1840er Jahren mit anderen deutschen Verlagen eine anti-habsburgische Kampagne startete, intervenierte Metternich über den österreichischen Gesandten beim sächsischen Hof in Dresden, und als Anton Philipp Reclam nach dem Druck von Thomas Paynes "Das Zeitalter der Vernunft" (1846) wegen "öffentlicher Herabsetzung der Revolution" zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde, bewahrte ihn nur die 1848er-Revolution vor dem durch Einsprüche herausgezögerten Antritt der Haftstrafe. Beim Start der Universalbibliothek war der Verlagsgründer bereits sechzig Jahre alt, ein Freimaurer und Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der die Industrialisierung der Literatur als Beitrag zum Abbau von Wissens- und Bildungschancen betrieb.

Und dabei auf ökonomische Effizienz bedacht war, die Typografie, etwa beim Satz von Dramentexten, und den Umgang mit dem Weißraum dem Gesetz unterwarf, Platz und damit Produktionskosten zu sparen. Platzsparend im Innern, ausgreifend nach außen war die Universalbibliothek. Ausgreifend, das hieß auf effizienten Vertrieb und hohen Absatz orientiert. Man kann das gleich an den ersten Bänden, den beiden Teilen von Goethes "Faust", ablesen. Die Rosenranke, das in die Augen fallende grafische Element der Titelseite, trägt als Werbebanderole die Aufschrift: "Jede Nummer für 20 Pfennig überall käuflich".

Das Gelb kam erst in den Siebzigerjahren auf die Buchumschläge

Das hieß: Hier gibt es keine Subskription, kein Abonnement, bei dem der Leser auch Einzeltitel abnehmen muss, die ihn weniger interessieren. Hier sind das serielle Prinzip und der Einzelverkauf gekoppelt, jeder kann sich durch die Summierung von Einzeltiteln seine individuelle Klassiker-Bibliothek zusammenstellen.

Es ist reizvoll, in der Kabinettausstellung den Wandel der Umschlaggestaltung zu verfolgen, den Wechsel von der Rosenranke zur Säulenornamentik im Jahr 1917, den Wegfall des Reihentitels "Universal-Bibliothek"mit der Einführung der gotisierenden Schrift 1936. Der Wechsel signalisierte, dass die Marke nun so fest etabliert war, dass sie nicht mehr eigens genannt werden musste. Man kann auch sehen, wie die an die klassischen Buchfarben erinnerenden Einbandfarben noch nach 1947 beibehalten wurden, als der Verlag aus dem zerstörten Leipziger Buchviertel nach Stuttgart zog und erst 1970, als in der Mode die "Schockfarben" aufkamen, auf die Signalfarbe Gelb umgestellt wurde. Ein Jahr zuvor war im Maschinensaal der Druckerei die Offset-Rollenrotation eingeführt worden. Zum ersten Mal war nun auf den Titeln die Schrift rechtsbündig gesetzt.

Das "Reclam-Heft" spielte, nicht zuletzt, weil es ein Standardformat der Schullektüren wurde, in der Innenwelt der Deutschen eine ebenso große Rolle wie in den Bilanzen des Verlags. Man kann das an den Feldbibliotheken ablesen, die in der Ausstellung zu sehen sind. Die Universal-Bibliothek war aber zumal im zwanzigsten Jahrhundert keineswegs nur ein Medium der Popularisierung der deutschen Klassik. Das Versprechen des Universellen im Sinne des Internationalen ging über die Shakespeare-Bände des ersten Jahrgangs hinaus. Ein Jahr nach der Neuübersetzung der "Leaves of Grass" ("Grashalme") von Walt Whitman durch Johannes Schlaf erschien 1908 als Jubiläumstitel Nummer 5000 in der Universal-Bibliothek die Erstveröffentlichung eines Gegenwartsautors, Otto Ernsts "Vom Strande des Lebens".

Buchautomaten, die Tanksäulen ähnelten

Damit war die im späten 19. Jahrhundert begonnene Öffnung der Universalbibliothek für die Gegenwartsliteratur, die Werke noch lebender Autoren akzentuiert. Dieses Bündnis mit der Gegenwart beinhaltete das Bündnis mit modernen Vertriebsstrategien. Es steckt in dem markanten Jugendstilplakat, das für die 1901 gegründete Wochenschrift "Reclams Universum" wirbt, es steckt in den ausgestellten Prospekten für die Preisausschreiben und der Benachrichtigung des Gewinners, in dem frech-paradoxen Slogan "Reclam braucht keine Reklame" und in den Buchautomaten, die kein Geringerer als der Architekt und Designer Peter Behrens entwarf. Ein wenig ähneln sie Tanksäulen, von 1912 bis in die frühen Dreißigerjahre waren über 2 000 von ihnen nicht zuletzt an Orten der Zirkulation zu finden, auf Marktplätzen, und Schiffen, in Bahnhöfen, aber auch in Krankenhäusern und Kasernen.

Ausstellung: Universal. Reclams Jahrhundertidee âē Leipzig 1867 bis 1990

Den Leipziger Buchautomaten, 1912 erstmals aufgestellt, entwarf kein Geringerer als Peter Behrens.

(Foto: Deutsche Nationalbibliothek Leipzig)

Allzu knapp ist in der Kabinettausstellung die Streichung jüdischer und den Nationalsozialisten missliebiger Autoren behandelt, sie zeigt aber eine Auswahl der gut dreißig bekannten "Tarnschriften". Für sie empfahl sich die Universalbibliothek wegen ihrer Unauffälligkeit als Versteck: hinter dem Titel "Bismarck: Im Kampf um das Reich" verbarg sich der von Karl Hans Bergmann, einem in die Schweiz geflohenen Mitglied des "Freien Deutschland", verfasste Bericht über die Arbeit kommunistischer Untergrundgruppen in Deutschland.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war auch die Universal-Bibliothek zweigeteilt. Sie wurde nicht nur in Stuttgart, das Ernst Reclam 1950 zum Stammhaus erklärte, fortgeführt, sondern auch am Leipziger Standort, wo der Verlag 1950 von den DDR-Behörden unter Treuhandschaft gestellt wurde. Eine kleine Auswahl aus den bis zum Jahr der deutschen Einigung 1990 bei Reclam Leipzig erschienenen Titel zeigt, wie trotz der Verpflichtung auf die offizielle Kulturpolitik ästhetisches Neuland gesucht wurd, etwa mit Anthologien wie Karlheinz Barcks "Surrealismus in Paris" (1986) oder Fritz Mieraus "Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule" (1987). Im Jahr 2006 wurde der Standort Leipzig geschlossen.

Ein eigenes Kapitel ist den Selbstfeiern der Universalbibliothek zu ihren runden Jahrestagen gewidmet. Es gibt eine kleine Einführung in das aktuelle Jubiläum.

"Universal. Reclams Jahrhundertidee - Leipzig 1867 bis 1990", bis 3. Juni. Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, Leipzig.

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